Das grausige Grimoire - Wolle
Wolle
Safia konnte sich nicht daran erinnern, den Laden des Präparators betreten zu haben. Regen prasselte gegen das Fenster und der Geruch von feuchtem Gebälk durchdrang die Luft. Der durch den Raum schwebende Staub brachte sie zum Husten. Abgestorbene Haut, erinnerte sie sich.
Zunächst dachte sie, die Kammer wäre lediglich unordentlich. Kleinkram und dies und das, aufgetürmt zu bedrohlich wankenden Stapeln, die an der Wand lehnten. Dann bemerkte sie die Augen. Hunderte trüber Glasaugen.
'Meine Kreationen', sprach eine Stimme. Safia wirbelte umher und ihr Blick fiel auf einen großgewachsenen, gekrümmten Mann. Sein dunkles Haar fiel in fettigen Zotteln über seine Schultern, und seine Kleidung hing schlaff an ihm herab.
Safia stotterte.
'Ich... Ich war...'
Er hielt ihr seine dünne, bleiche Hand hin. 'Falko Mahler. Präparator.'
Safia fragte sich, ob sie ihm schon einmal begegnet war. Sie nickte stillschweigend, vermied jedoch seine Hand.
'Sie sehen so lebensecht aus.'
'Bis auf die Augen?' Falko verzog sein Gesicht zu einem Grinsen und Safia ertappte sich dabei, wie sie zustimmend nickte. 'An den Augen kann man nicht viel ändern. Glas. Allesamt.'
Safia näherte sich dem ausgestopften Kadaver eines Kolibris, dessen Körper auf ewig im Halbflug festgesteckt war. Sie streckte die Hand aus, als wolle sie ihn berühren, zog sie jedoch kurz davor zurück und hustete.
'Bitte, mach es dir bequem.'
'Ach, ich muss bald zurück,' sagte Safia. 'Ich warte nur drauf, dass der Regen vorüberzieht. Die Kinder warten zu Hause.' Ein zärtliches Lächeln umspielte ihre Lippen. 'Oft gibt es so viel zu erledigen, nicht wahr?' Sie hustete.
'Passiert vielen, hier drinnen.'
'Haben Sie viele Kunden?', erkundigte sich Safia mit Mühe.
'Nicht allzu viele, um ehrlich zu sein,' entgegnete Falko. 'Die Leute, die hier herkommen, waren stets dazu bestimmt, auch wenn es ihnen vielleicht nicht bewusst war. Manche kehren einfach zurück, andere gehen nie. Es gibt keine...Zufälle.'
'Ich laufe jeden Tag an diesem Laden vorbei. Wenn ich ehrlich bin, habe ich Albträume davor ihn zu betreten.' Safia versuchte, sich zu räuspern. 'Bei den Göttern, treibt dieser Staub Sie nicht in den Wahnsinn?'
'Man gewöhnt sich dran,' schmunzelte er. 'Es ist schließlich nur Haut, nicht wahr?'
Safia versuchte zu antworten, doch ihr Hals war wie zugeschnürt. Sie würgte, geriet in Panik und stolperte rückwärts gegen die Wand. Falko Mahler stand daneben und beobachtete sie.
Tränenüberströmt blickte sie zu ihm auf. 'Könnten Sie...? 'Meine Kehle...ich glaube...' Ihre Hände reichten nach dem Glas Wasser auf dem Tisch. Falko schob es beiseite.
'Weißt du, die meisten Leute denken, es ginge nur um Trophäen. Jäger, die mit ihrem Talent prahlen.' Falko lächelte und hob einen antik wirkenden Handspiegel auf. 'Aber für viele geht es darum, zu bewahren, was sie lieben. Die armen Herzchen, die sich nicht von einem liebgewonnenen Haustier trennen können.'
Safia griff nach ihrem Hals.
'Wasser...'
Falkos Stimme war emotionslos. 'Wasser ruiniert die Wolle.' Safia hörte auf zu husten. Falko brachte den Spiegel auf Höhe ihres Gesichts und sie erblickte sich selbst. Tote, glasige Augen starrten sie an. Augen wie die, die sie umgaben. Augen, die in bekannten, menschlichen Gesichtern vertieft waren. Safia spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. 'Meine Kinder,' röchelte sie.
Falko Mahler grinste. 'Sie sind bei dir, Safia. Sie sind bereits hier.'