Das grausige Grimoire - Boten der Apokalypse
Boten der Apokalypse
Letzte Nacht erblickten wir es, wie es über dem westlichen Horizont hing. Das ganze Dorf versammelte sich, um seinen illustren Tanz zu bezeugen. Ein himmlisches rötliches Glühen, ein einzelner heller Punkt, noch betörender als alle Sterne am Nachthimmel zusammen. Es schien für eine gefühlte Ewigkeit zu verharren und jeder Mann, jede Frau, jedes Kind war von seiner Schönheit gebannt. Mal wachsend, mal schrumpfend, stets pulsierend wie ein Leuchtfeuer - wir wussten, dass es uns rief. Die ganze Welt hielt inne und lauschte.
Das sinnlose Rascheln der Bäume verklang und kein Vogel wagte, sein eiferndes Lied anzustimmen. Wie Schwanengesang ergriff jeden, der den Ruf vernahm, das Gefühl, die wahre Schönheit in der Zerbrechlichkeit des Lebens gesehen zu haben. Es zu erblicken, bedeutete einen Frieden zu fühlen, der sich nur durch turbulente Zeiten und Mühen erfahren lässt. Familien rückten enger zusammen, Fremde warfen sich versöhnende Blicke zu, Liebende hielten einander eng in tröstenden Armen - selbst lange vor den verwünschten Kriegen fühlte niemand je solch wahrhaftige Harmonie und inneren Frieden. Wir starrten noch eine Weile, mit stockendem Atem warteten wir auf den drohenden Höhepunkt. Und dann - ein Blitz! Wie eine Säule schoss das Licht in den Himmel. Dann fiel Dunkelheit wie ein schwerer, samtener Vorhang über die Erde. Mein Herz kannte keine Furcht. Der Tod war nach Forinthry gekommen.
Diejenigen unter uns, die den Blitz überlebten, flohen gen Süden. Der westliche Horizont erschien nun schwarz, gespalten und zerrissen, so als hätten die Götter höchstpersönlich in ihrer Inbrunst das Licht aus dem Boden gerupft. Ein absonderliches Leiden begann sich entlang der Grenzen unseres Konvois zu verbreiten. Alle Speisen, einst köstlich und reif, zerfielen in unseren Mündern zu Asche. Das Wasser, gut rationiert, um unseren Durst zu löschen, verdampfte auf unseren rissigen, ausgedörrten Lippen zu Dunst. Ich fürchtete, viele von uns würden sterben, ehe sie die Lichter der südlichen Grenze erblicken würden. Der Hunger war nach Forinthry gekommen.
Die Erde unter unseren Füßen war heiß. Brennend wie ein Fieber aus schwarzer Asche. Der Horizont kam uns entgegen, uns zu grüßen, und alles um uns war verödet. Und wie das Leben aus der Welt entwich, so entwich es auch aus uns. Unsere Haut war mit Rissen und Narben übersäht, die nie wieder heilten. Unsere Augen gerötet und wund. Unser Haar schlaff, zerwühlt und verfilzt. In triefende Verbände gewickelt wanderten wir weiter. Alle Tiere, die wir mit uns führten, waren geflohen oder erlagen einem Schicksal wie das unsrige. Ich fürchtete, dass wir dieser Verdammung und Qual nie entkommen würden. Die Seuche war nach Forinthry gekommen.
Nun bin ich einsam auf meiner Reise - und doch bin ich nicht allein. Mit jedem Strich auf dem Papyrus fühle ich ihre Augen auf mir ruhen. Meine Sicht ist verschwommen, und doch sehe ich sie aus den Augenwinkeln. Tosend treffen Stahl und Knochen und Stein aufeinander. Die Folter ihres Todes soll dieselbe sein, die sie im Leben ertrugen. Mein Fleisch fällt von meinem Gerippe ab, vernarbt und zerfetzt. Krieger und Magier und Bestien liefern sich Schlachten im Namen der Götter, die diese Länder längst im Stich ließen. Meine Muskeln und Knochen brennen tief und erleiden Qualen durch rohe Feuersbrunst und Wut, die droht, auch mich zu verzehren. Der Krieg war schon immer in Forinthry zuhause. Und ich fürchte, dass ich endlich zuhause bin.