| Der letzte Drachenreiter
Soweit ich mich entsinnen kann, hat niemand über mein Volk geschrieben. Die hier von mir verfassten Worte sind möglicherweise unsere einzige Hinterlassenschaft. Dies ist einzig und allein unsere Schuld, und ich bin insbesondere dafür verantwortlich, wie die Dinge geschehen sind.
Vor langer Zeit lebten wir auf einer Welt ohne Sterne am Himmel. Es war eine einfache, schöne Welt, und wir hatten keinen Grund, uns gegenseitig zu bekämpfen. Es gab keine Gegner, Drohungen oder Lügen, und wir lebten in Frieden mit allen Wesen, einschließlich der großen Gurhs. Dies waren riesige Kreaturen, die die Sümpfe durchstreiften. Wir halfen ihnen bei der Nahrungssuche und im Gegenzug erlaubten sie uns, auf ihnen zu reiten, um unsere Felder zu bestellen. Wir kümmerten uns um ihre Nester. Dies fiel vielen von uns schwer, da wir uns zwar sehnlichst Kinder wünschten, unsere Körper jedoch unfruchtbar geworden waren. Es war seit Jahrzehnten kein Kind mehr geboren worden, und unsere Jüngsten würden bald über das gebärfähige Alter hinaus sein.
Eines Nachts, als alle drei Monde klar am Himmel zu sehen waren, erschien eine schattenhafte Gestalt am Rand unserer Siedlung. Als wir uns ihr näherten, verschwand sie. Wenn wir sie ansprachen, antwortete sie nicht. Nach einer gewissen Zeit gewöhnten wir uns daran, von ihr beobachtet zu werden. Wir wandten uns wieder den Gurhs zu und ritten auf ihnen, um unsere Felder zu pflügen.
Schließlich näherte sich der schattenhafte Mann uns. Seine Stimme klang, als ob mehrere Stimmen gleichzeitig verlauten würden:´Ich habe ein Angebot für Euer Volk. Ich kann Eure Unfruchtbarkeit heilen. Ihr müsst aufhören, diese Bestien großzuziehen, um eigene Kinder haben zu können. Verlasst diese Welt, und Ihr erhaltet mein Geschenk.´
Eine neue Welt? Eine Hoffnung auf Kinder? Es war überwältigend. Er gab uns nur eine Nacht, um uns zu entscheiden. Wir, die Reiter des Stammes, trafen uns auf unseren Gurhs in sicherer Entfernung von dem Fremden. Wir diskutierten und verlangten eine Abstimmung. Jeder Reiter sollte seinen Gurh vorwärts schreiten lassen, wenn er diesem Fremden folgen wollte. Diejenigen, die dies nicht wünschten, sollten zurücktreten. Ich war der Einzige, der sich nicht regte, während alle anderen nach vorne traten. Entscheidungen waren mir noch nie leichtgefallen.
Also folgten wir dem Mann durch ein Portal auf eine andere Welt. Diese Welt war ganz anders als unsere - sie war voller Berge, großer Ozeane und einer enormen Vielfalt von Kreaturen. Wir hatten unsere Welt den Gurhs hinterlassen und entwickelten nun schon bald eine Verbundenheit mit den Drachen. Die großen Echsen ähnelten durchaus den Gurhs, außer dass sie Feuer spuckten und nicht so sanft waren. Doch in unseren Händen wurden auch sie zahm genug, um auf ihnen zu reiten. Derjenige, der uns hergebracht hat - sie nannten ihn den ´Namenlosen´- meinte, wir seien die ersten gewesen, die dies geschafft hatten. Er schien zufrieden mit uns zu sein.
Die neue Welt war komplex, und es ereignete sich so viel, das wir nicht verstanden. Wir mussten Konzepte wie Kampf, Krieg, Verrat, Treue und Lügen schnell lernen und begreifen. Davon fiel uns die Treue am leichtesten, und wir taten, was der Namenlose befahl, in der Hoffnung, mit Nachkommen belohnt zu werden.
Als Nächstes lernten wir etwas über den Krieg, und es zeigte sich, dass wir Talent dafür hatten. Er weckte etwas in uns. Die Feinde des Namenlosen fürchteten uns. Ich ritt auf einer fabelhaften Bestie mit drei Köpfen. Man hörte von uns, den ´Drachenreitern´.
Jahrelang ließen wir Feuer auf unsere Gegner herabregnen, und viele vergaßen unsere Unfruchtbarkeit, obwohl unsere Anzahl stetig zurückging. Die besten Krieger fallen, und die Ältesten sterben an Altersschwäche. Ich berief ein Treffen ein, und wir entschlossen uns, beim Namenlosen nachzufragen. Er bat uns, bis zum Ende des Krieges zu warten. Der Namenlose sagte uns, dass der Tag bald kommen würde. Doch nach einer furchtbaren, grausamen Schlacht verblieben nur noch fünf von uns. Aus Dutzenden war eine Handvoll geworden.
In diesem düsteren Augenblick trat einer der Generäle des Namenlosen, Zamorak, auf uns zu. Seine Macht und sein Einfluss waren gewachsen, und er war bekannt dafür, Versprechen zu machen, die der Namenlose nicht hören konnte. An diesem Tag bot er uns das an, was der Namenlose uns stets verwehrt hatte, und zwar im Austausch dafür, dass zwei von uns zu seiner persönlichen Wache werden würden. Wir entschieden, dass Morvannon und Apropos mit ihm ziehen würden. Wenn der Namenlose seine Versprechen nicht halten würde, so würde es vielleicht wenigstens Zamorak.
Eine Woche später kehrten Morvannon und Apropos zu uns zurück. Sie waren den ganzen Abend lang geflogen, um uns die Nachricht zu überbringen: Zamorak hatte eine Waffe gefunden, die mächtig genug war, um den Namenlosen zu bezwingen. Der Kampf würde diese Nacht stattfinden. Apropos meinte: ´Wir müssen mit Zamorak reiten. Der Namenlose wird sein Abkommen mit uns niemals erfüllen. Wenn Zamorak heute Nacht ein Gott wird, werden wir für unseren Beistand belohnt.´ Morvannon saß bereits auf ihrem Drachen und war bereit zum Abflug.
´Nein. Wir dürfen nicht unser Leben riskieren, indem wir uns mit Zamorak verbünden´, meinte Ablenkian. ´Der Namenlose hat uns Nachkommen nach dem Krieg versprochen. Wenn wir ihn warnen, wird er unsere Treue belohnen. Außerdem - woher willst du überhaupt wissen, dass Zamorak die Macht hat, uns etwas zu geben?´ Balustan nickte.
Wie einst bei den Gurh-Treffen stimmten wir mithilfe unserer Reittiere ab. Die Drachen von Ablenkian und Balustan spien Feuer himmelwärts, während die von Morvannon und Apropos ihres gegen den Boden lenkten. Mein Drache stand regungslos da, apathisch und unentschieden.
´Wir können das Schicksal unseres Volks nicht aufs Spiel setzen. Wenn wir uns verschätzen, können wir alles verlieren. Wir müssen das behalten, was wir haben, und nichts weiter tun. Der Sieger wird uns auf seiner Seite wollen. Wir können die Drachen kontrollieren - er wird uns vergeben, dass wir nicht eingeschritten sind.´ Das sagte ich.
Wir stritten, wir kämpften, wir stimmten in dieser Nacht unzählige Male ab, doch keiner von uns änderte seine Meinung. Wir stritten uns, bis die Sonne am Horizont erschien, doch ich war mir sicher, dass der Sieger der Schlacht uns wieder willkommen heißen und unsere Krankheit heilen würde.
Doch in dieser Nacht verschwanden sowohl Zamorak als auch der Namenlose von der Welt - wir haben nie erfahren, was geschehen ist. Was noch wichtiger ist, ist dass ihre Armeen bestehen blieben. Es gab ein Chaos, und viele begannen, gegeneinander zu kämpfen, doch andere sahen sich nach einem Ziel für ihre Rachegelüste um. Zamoraks Anhänger behaupteten, dass Morvannon und Apropos Zamorak verlassen hätten, und stempelten sie als Verräterinnen ab. Diejenigen, die dem Namenlosen treu waren, glaubten, dass Ablenkian, Balustan und ich Verräter waren, und jagten uns.
Apropos starb als Erste - sie war von Zamoraks Vampiren zur Strecke gebracht worden. Nachdem sie ausgesaugt wurde, wurde sie an einem Pfahl festgebunden, damit alle sie sehen würden. Es dauerte nicht lang, bist Ablenkian und Balustan ihr folgten. Sie versuchten zu fliehen, doch sie wurden von den Reißerdämonen des Namenlosen zerfetzt. Morvannon konnte Zamoraks Höllenhunden ungefähr eine Woche lang entkommen, doch dann riss ein einziger Pfeil sie von ihrem Drachen. Sie wurde von der Meute verschlungen, und ich war zum ersten Mal allein.
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Ich bin in die Höhle zurückgekehrt, über die wir diese trostlose Welt zum ersten Mal betreten hatten. Mein Drache ist an meiner Seite und bereitet mir zumindest ein wenig Trost. Wenn ich ihn ansehe, fühle ich mich an die Gurhs unserer Heimat erinnert. Ich frage mich, ob sie wohl ohne uns überlebt haben.
Hannibus | |